Tiago Vieira ist Präsident des WBDJ, dem weltweit größten Zusammenschluss antiimperialistischer Jugendorganisationen mit 140 Mitgliedsorganisationen und etwa 30 Millionen Mitgliedern.
Die KJÖ traf ihn in Wien um mit ihm über die Ereignisse in der arabischen Welt zu sprechen.
Der WBDJ wird im April eine Delegation nach Ägypten schicken.
Hallo Tiago! Danke dass du dir Zeit für ein Gespräch genommen hast.
Gerne! Wenn ich schon in der Welt herumkomme, muss ich doch meine Erfahrungen mit meinen Genossinnen und Genossen teilen.
Hat der WBDJ ein Mitglied in Ägypten?
Ja, und zwar die Union of Progressive Youth of Egypt. Ihre Arbeit liegt in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft und sie sieht sich als Teil des Widerstands gegen Mubarak und die Überbleibsel seines Regimes in Regierung und Verwaltung. Die Union arbeitet mit kommunistischen und sozialistischen Kräften eng zusammen und mit Demokraten, die dem fortschrittlichen Prozess nahestehen.
Du warst drei Tage in Ägypten. Mit wem hast du dich getroffen?
Die meisten Treffen waren mit Vertretern der Union of Progressive Youth of Egypt und mit Genossen aus der Kommunistischen Partei. Weiters mit zahlreichen nicht konkret organisierten Menschen, die aber über die Zeit eine führende Rolle in den Protesten eingenommen haben. Alle diesen Menschen haben eines gemein: sie sind mit ihrem Leben unglücklich und wollen nicht länger nur zusehen. Im Fortschreiten der Revolution sind diese Leute gewachsen und machen keinen Anstand jetzt bereits aufzuhören.
Wie würdest du die Stimmung der Menschen in Ägypten beschreiben?
Das vorherrschende Gefühl ist die Hoffnung in eine bessere Zukunft. Diese Hoffnung speist sich aus der Erkenntnis, dass sie die Kraft dazu haben, das System zu ändern, eine Transformation der bestehenden Verhältnisse herbeizuführen. Sie wissen, dass sie ihr Land verändern können.
Das bisher erreichte wird zweifellos als großer Erfolg gesehen, aber ist nur ein kleiner Schritt im Vergleich zu den anstehenden Aufgaben. Aber die Menschen in Ägypten sagen: „Wir können das schaffen!“ und sie wissen, dass es auf sie ankommt. Es liegt an ihnen sich ihre Rechte zu erkämpfen und gegen ein repressives System aufzutreten. Wenn diese Erkenntnis Schule macht, wenn plötzlich Alle diese Einsicht teilen, wenn die Völker der Erde erkennen, dass sie die Geschichte schreiben, dann ist der Sturz des Imperialismus sicher.
Obwohl es schwer einzuschätzen ist, verrate uns bitte wie du die weitere Entwicklung siehst.
Wie du schon sagst ich es schwer vorauszusehen, in welche Richtung sich die Angelegenheit entwickelt. Einerseits haben wir da den Kampf der Massen auf den Straßen. Der Einsatz des Volks wird darüber entscheiden ob sich die Revolution fortsetzt oder ob es einen Rückschlag geben wird.
Andererseits wollen die imperialistischen Mächte natürlich die Kontrolle behalten. Dies versuchen sie auf vielfältige Art und Weise. Der aus Wien importierte ElBaradei beispielsweise wird von außen an Ägypten herangetragen. In den Medien bei uns spielt er die Rolle eines Demokraten, aber die Leute am Tahrir-Platz haben ihn ausgebuht als er dort gesprochen hat. Er wird von den Herrschenden im Westen und von den Eliten in Ägypten fleißig promotet, aber er steht im Dienste des Imperialismus und gegen die Interessen des Volks.
Welche Faktoren sind sonst noch zu berücksichtigen?
Wie gesagt ist es ein offener Prozess, der sich schwer mit Gewissheit voraussagen lässt. Was bis jetzt geschah ist wichtig. Es wird sich noch zeigen ob sich die Agenda des Volks durchsetzen wird. Generell war es während meines Aufenthalts schwer zu sagen, wer wer ist und wo all diese verschiedenen Menschen herkamen. Neben den Demonstranten gibt es noch weitere Player wie die Armee oder Vertraute Mubaraks, die nach der Macht greifen.
Wie schätzt du die Rolle des Imperialismus ein?
Ägypten ist schon alleine wegen dem Nahost-Konflikt mit der internationalen politischen Situation eng verbunden. In der Vergangenheit haben sie sich immer wieder durch Kompromisse mit Israel ausgezeichnet. Dem US-Imperialismus kommt hier die Vorreiterrolle zu. Viele der Demonstranten sehen die Revolution als Möglichkeit um Palästina zu helfen. Das Bewusstsein, das man hier einen gemeinsamen Kampf führt, wird stärker und es herrscht ein großes Gefühl der Solidarität mit dem palästinischen Volk. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit macht sich in der ganzen arabischen Welt breit.
Beispielsweise wurde Demonstranten im Jemen versprochen ihr Gehalt zu verdoppeln, um sie von der Straße zu vertreiben. Diese aber lassen sich nicht bestechen und fühlen, dass es notwendig ist dieses System der Ausbeutung zu überwinden.
Welche Kräfte stehen deiner Meinung nach hinter der Revolution?
Es ist schwer hier eine Person oder eine Organisation zu nennen. Das ist gut und auch schlecht. Es gibt keine klare Orientierung und viele verschiedene Ausprägungen eines über lange Jahre angestauten Ärgers. Es gibt hier ein großes Durcheinander. Andererseits ist es so auch schwerer für imperialistische Kräfte die Macht zu erlangen. Sie können die Revolution schwer instrumentalisieren. Die Frage die sich uns stellt ist: Werden die Massen weitergehen? Deswegen ist es so wichtig, dass sich eine einheitliche Front für den Fortschritt bildet.
Wenn man bei uns in den Zeitungen liest, könnte man fast den Eindruck bekommen, dass die Revolution dank Facebook und anderer sozialer Medien passiert und eigentlich eine spontane Erhebung ohne großen Hintergrund ist. Was ist deine Meinung dazu?
Natürlich darf man die sozialen Netzwerke im Internet und die moderne Kommunikation nicht unterschätzen. Lenin hätte sich bei der Oktoberrevolution mit Handy auch leichter getan, haha.
Aber man muss sagen, dass gerade mal 6,5% der Ägypter Facebook nutzen. Das sind fünf Millionen und eigentlich können sich nur Reiche Internet leisten – diese Erklärung ist also sicher nicht zielführend. In den imperialistischen Medien wird aus gutem Grund die Spontanität als entscheidend hervorgehoben. Laut ihnen braucht die Entwicklung keine wirkliche Organisation. Eine tatsächliche Organisation der Volksmasse wäre nämlich nicht in ihrem Sinn.
Vor den letzten Ereignissen gab es jahrelange Arbeit beispielsweise von Gewerkschaften in Fabriken, die jetzt auch dahinter sind weiter zu gehen als dies die imperialistischen Eliten gerne sehen würden. In den Medien wurden die ganze Zeit über die Demonstranten gezeigt, „vergessen“ hatten sie die Berichte über die dauerbesetzten Fabriken. Die seit Jahren stattfindende Mobilisierungsarbeit war der entscheidende Faktor und nicht Facebook!
Abschließend habe ich noch eine Frage über Ägypten hinaus. Wie siehst du die Ereignisse in Libyen? Hier ist es ja sehr schwer gute Informationen zu bekommen.
Zuerst einmal muss man sagen, dass es in einigen Fällen eine differenzierte Situation ist. Es ist momentan einfach unmöglich eine Linie zwischen den berechtigten Kämpfen der unterdrückten Menschen und den Protesten die der Imperialismus steuert bzw. einzuvernehmen versucht zu ziehen. Zum Beispiel hatten wir 2009 im Iran so eine Situation.
Bei Libyen weiß ich ehrlich gesagt nicht genug über die innenpolitische Situation, um hier exakt Auskunft geben zu können. Jedenfalls unterscheidet sich Libyen von den anderen nordafrikanischen Ländern zum Beispiel durch eine deutlich höhere Lebenserwartung und ein offenes Bildungssystem. Und wenn die Human Rights Watch, die im Grunde als Sprecherin des CIA agiert, auftritt, muss man immer vorsichtig sein. Aber natürlich haben die Menschen das Recht wütend über die Entwicklung zu sein! Und auch hier hat natürlich das Volks das Recht dazu die Macht zu übernehmen! Kein System ist gut, wenn es nicht den Menschen dient. Der WBDJ ist gegen die Gewalt und gegen die Repression, die ja auch nicht erst anfängt, wenn Menschen eingesperrt werden. Die Menschen müssen das Recht zu protestieren haben und sie müssen tun was notwendig ist, um ihre Bedürfnisse zu stillen. Aber insgesamt ist die Situation in Lybien noch nicht klar genug um hier einen guten Kommentar abgeben zu können.