statt eines Fazits: eine Kurzgeschichte.
Am Nachmittag quetschte sich Karin durch die Tür des Lagerraums, der gleichzeitig als Büro diente. Sie putzte sich an der Schürze ab, hing die Geldbörse eh noch? Ja. Harald saß an einem viel zu winzigen Schreibtisch in diesem viel zu kleinen, dunklen und engen Hinterzimmer, zwischen Bierkisten, Erdäpfeln und Kaffeebohnen, ein kleiner Kasten im Rücken, der über und über beladen war, die Bretter hingen leicht durch. Ein schmales Fenster an der Stirnseite warf einen Fetzen Licht auf das Buch, über dem Harald, der im Lokal eigentlich Kellner war, mit faltiger Stirn saß und las. Er leckte kopfschüttelnd seinen Zeigefinger ab und blätterte um.
„Und, hast wos?“, fragte Karin leise, denn es herrschte noch Betrieb, und vielleicht, wer weiß, horchte wer zu hinter der Tür. Harald nickte, ohne aufzublicken.
„Jo, die Sau hot uns beschissn und belogen.“
Karin presste die Lippen aufeinander. Also doch. Die vielen Überstunden, die Spätschichten, genau wie sie gedacht hatte.
„Und mir san ned die einzigen. Bei die ondaren hoda a mi’m Rotstift nachgeholfen.“
„Und des siechst aus den Zahlen?“, fragte sie und deutete darauf. Harald nickte, der ungläubige Blick wich jedoch nicht vom Buch. Genau, wie es sich die beiden also gedacht hatten. Der Chef war vor ein paar Tagen mit einer neuen Uhr aufgetreten. Hätte Harald nicht zwei mal hingeschaut, dann wäre die goldene Armbanduhr kaum aufgefallen. 35000 laut Internet. Das hätte der Chef nicht machen sollen, nicht in diesen Zeiten. So dumm musste man erst einmal sein. Das Lokal geht schlecht, sagte er immer, obwohl es immer voll war. Alle Kosten sind zu decken, sagte er immer, und dies und jenes und die Tafel über dem Haupteingang. Da stand es. Für jeden sichtbar. Da stand einssieben für Karin, dabei hatte sie seit Monaten nur einsdrei bekommen, sie verstehe das doch, oder etwa nicht, harte Zeiten, Vollgas, und er mache doch auch Abstriche. Kann sein, hatte sie gesagt, und dabei schnaubend an ihre kleine Tochter gedacht. Gesagt hatte Karin nicht, was sie wirklich dachte, denn dann wäre sie den Job schneller los geworden, als ihr lieb war, das kannte sie schon. Bloß nicht aufmucken, weil sonst AMS und eh schon wissen. Und wer nimmt schon eine ledige Mutter? Zu dem Stundenlohn? Was stellen Sie sich vor, junge Frau? Sind Sie deppert, junge Frau? Das wollte sie dem Mädchen nicht antun, aber dann fiel Harald die Uhr auf, und da stand zweineun für die neue Tafel über dem Haupteingang. Aber da hing immer noch die alte Tafel, welche vor fünfzehn Jahren, als der Chef aufgemacht hatte, dort angebracht worden war. Aber da hing immer noch die alte Tafel, deren Neonschrift-Röhren nach und nach durchgebrannt waren. Allein machen sie dich ein, den Spruch hatte Karin mal irgendwo aufgeschnappt, aber jetzt hatte sie ja zumindest Harald.
Und was war schon das schlimmste, was geschehen konnte? Wenn sie den Chef beeindruckten, würden sie ihr Geld wiedersehen. Und er konnte sie kaum feuern. Mit diesem Beweis. Also es wäre ihm kaum möglich, alle zu feuern, weil einer oder mehrere, die würden vielleicht sogar auspacken, und dann würde es sehr peinlich werden.
Und dann standen sie vor den Kollegen, dem Koch, dem Barkeeper und den anderen zwei Kellnern. Und sie sagten nichts, sie legten einfach nur nach Geschäftsschluss das Kassenbuch auf die Theke. Und blätterten darin. Und als sie ein, zwei Stunden darin geblättert hatten, hin und her, ungläubig, da pressten die Kerle die Lippen zusammen, sahen sich an, schüttelten den Kopf, schauten zu Boden, sahen sich wieder an, dann Karin, und sie nickten. Michel, der Barkeeper, schenkte sich zwei Finger breit ein, leerte es in einem Zug runter. Beruhigte ihn.
Am Abend las Karin ihrer Tochter das Märchen von der Rübe vor. Wie es dem Großvater nicht gelang, diese riesige Rübe selber heraus zu ziehen, und er die Großmutter, die Enkel, den Hund rief, aber die Rübe wollte einfach nicht. Dem Großvater war das schon peinlich genug. Trotzdem rief er noch die Katze, aber erst als die Maus die Katze beim Schwanz, die Katze den Hund bei der Rute, der Hund das Kind am Hosenbund, das Kind die Großmutter am Rocke, die Großmutter den Großvater am Gürtel, und dieser die Rübe am Laub packte, erst dann – mit einem Ruck – sprang die Rübe aus dem Erdreich hervor. Die Tochter kugelte sich vor Lachen im Bett. Dann ein Kuss, gute Nacht, bis morgen, Licht aus, Tür zu. Als sie zum Küchenfenster hinaus rauchte, dachte Karin an die Rübe. Als sie sich die Zähne putzte, dachte Karin an die Rübe. Und als sie endlich ins Bett ging, das heißt, nachdem sie die Ausziehcouch im Wohnzimmer ihrer Zweizimmerbude ausgezogen hatte, dachte Karin an die Rübe. Die Rübe steckte in allem.
Am nächsten Tag erschienen sie alle überpünktlich. Der Chef hatte sich angekündigt, heute da zu sein. Er erwartete Gäste, wie er sagte, geschäftlich, es habe etwas mit der Renovierung des Lokals und mit dem Schild zu tun, ja das Schild eben. Es sei nicht mehr weit, und er habe ja genügend zur Seite gelegt, dann könnten sie alle einen tollen Neustart hinlegen, Neueröffnung, leiwand, nicht, und er könne alle endlich wieder normal bezahlen, so in zwei, drei Monaten, wenn alles wieder besser liefe.
Am späten Nachmittag waren die Schlipsträger endlich gegangen, die Studenten eingekehrt, also hatte man zunächst Ruhe, denn Studenten sind ja knapp und daher trinken sie zumindest tagsüber wenig in den Lokalen. So gingen alle bis auf den Chef in die Küche, und als der Chef merkte, dass sein Personal verschwunden war, da lockte es auch ihn in die Küche. Sie putzten sich die Hände an den Schürzen ab, stemmten die Arme in die Seiten oder verschränkten sie vor der Brust. Und sie schauten dabei zuwider drein. Also bis auf Karin, die schaute eigentlich recht frech drein.
„Chef“, sagte einer, „warum redet man eigentlich mit den Schlipsträgern über neues Geschirr, wenn man es sich nicht leisten kann?”
„Na, man kann sich ja mal umhören.“, antwortete der Chef.
„Und das Schild?“, fragte Karin. Der Chef stockte.
„Was für ein Schild?“, fragte er zurück. Und da knallte Harald das Buch auf den Tisch. Er machte die Seite mit der Buchung, wo „Schild“ vermerkt war und einssieben, „Schild“ war rot eingekringelt.
„Ach, das Schild.“, sagte der Chef, und verschmitzt rieb er sich mit der flachen Hand über Wange und Kinn, stumm stand er da, und seine Belegschaft stand ihm stumm gegenüber, mit scharfem Blick und verschränkten Armen. Einen Finger kannst du brechen, hat mal einer gesagt, aber zusammen, hat derselbe gesagt, zusammen sind sie eine Faust. Und deshalb standen sie da, sie wussten, allein macht er sie ein, aber gemeinsam, gemeinsam hatten sie eine Chance. Harald hatte gesagt, Finanzamt und Arbeitsgericht fänden das sicher interessant mit den verschiedenen Büchern, oder mit dem Unterschied zwischen Buch und Kontoauszügen. Hätte Harald das dem Chef allein gesagt, oder hätte Karin es gesagt, Karin wäre wahrscheinlich noch schneller draußen gewesen, ihr Ruf ruiniert, und wer nimmt schon eine junge Mutter, die kostet ja zu viel, denken sich die Bosse, und werden auch noch schwanger, das ist das Risiko, denken sich die Bosse, aber gemeinsam, gemeinsam zählten sie mehr. Jeder für sich war schon gut, aber gemeinsam, gemeinsam waren sie doch besser. Wie bei der Arbeit: da konnte der Harald auch nie allein kellnern. Und Michel stand ja immer hinter dem Tresen, der konnte schlecht zapfen und mixen und die Leute bedienen, das würde ja ewig brauchen. Und die zwei anderen, die Studenten, die verstanden ja nichts von der Küche, aber Teller tragen konnten sie. Also alle waren voneinander irgendwie abhängig, aber keinesfalls vom Chef, wobei jeder einzelne schon, weil er gab ihnen ja Arbeit. Aber dann wieder zusammen, zusammen könnten sie theoretisch den Chef raus hauen oder reinreiten, je nachdem, wie es einem eher gefällt, und dann das Lokal übernehmen. Weil ganz allein war der Chef ja auch aufgeschmissen, und bis neue angelernt waren und so, das dauert immer. Also jedenfalls und schlussendlich hatten sie sich zusammen gerauft und auf ein Packel gehaut und waren vor den Chef getreten, und der Chef stand ziemlich schlecht da. Entweder, er haute alle raus, aber das ging schwer, oder er verstand, was Sache war. Vor ihnen ragte eine riesige Rübe aus dem Erdreich. Karin hatte angepackt, Harald und Michel auch, der Koch und sogar die Studenten. Und der Chef stand ziemlich schlecht da, denn er zerrte in die andere Richtung.