Ursprünge der Österreichischen ArbeiterInnenbewegung
Dr. Günther Grabner, Historiker
Zur Geschichte der österreichischen ArbeiterInnenbewegung sind jüngst die sehr lesenswerten Erinnerungen von Oswalda Tonka erschienen: Die Arbeiterin Oswald Tonka (1923-1999) schildert ihre eigene Geschichte im jungkommunistischen Widerstand gegen den NS-Faschismus. Dazu erinnert sie an ihre sozialistischen und kommunistischen Vorfahren in der österreichischen ArbeiterInnenbewegung. So an ihren Großvater Jakob Sokopp (1855-1925), der am 5. April 1874 als junger Delegierter an einem wichtigen Klassenkampfereignis des österreichischen Sozialismus, am Parteitag von Neudörfl im Burgenland, damals in der ungarischen „Reichshälfte“ gelegen, teilgenommen hatte. Die Erinnerungen von Oswalda Tonka sind 2016 in Wien im Promedia-Verlag unter dem Titel „Buchengasse 100. Geschichte einer Arbeiterfamilie“ erschienen. Die folgende Leseprobe findet sich Seite 24f.:
„Es war eine gefährliche Zeit für politisch denkende Arbeiter, alle Vereine waren ja verboten. Dementsprechend schwierig gestaltete sich daher die Vorbereitung der Tagung, die später als ‚Erster Parteitag der Arbeiterbewegung‘ in die Geschichte eingehen sollte. Andreas Scheu gelang es, die behördlichen Aufsichtsorgane hinters Licht zu führen, und so versammelten sich alle Delegierten in dem ungarischen Grenzort Neudörfl, wo die Versammlung im Geheimen abgehalten wurde. Und bei diesem wichtigen Ereignis durfte der erst 19-jährige Jakob teilnehmen. Eine abenteuerliche Geschichte, von der meine Tanten immer voll Stolz berichteten.
‚Der Vater is z’Fuaß nach Baden gegangen, und weil die Behörden die Tagung verboten haben, is er mit den Delegierten sogar nach Ungarn g’fahrn. Am Heimweg is er von der Polizei aufgriffen und für acht Tage in den Arrest g’steckt worden. Aber die Strapazen haben sich gelohnt, weil er den ersten Arbeiter-Parteitag miterleben hat dürfen, wo sich die Gemäßigten endlich mit den Radikalen geeinigt haben.‘
In Neudörfl hatte sich die sozialistische ‚Scheu-Fraktion‘ gegen die ‚Bürgerlich-Liberalen‘ durchgesetzt. Mit einem Programm, das bemerkenswert war:
‚Die österreichische Arbeiterpartei erstrebt im Anschluss an die Arbeiterbewegung aller Länder die Befreiung des arbeitenden Volkes von der Lohnarbeit und der Klassenherrschaft durch Abschaffung der modernen privatkapitalistischen Produktionsweise. Stattdessen soll die gemeinschaftliche Produktion der Güter organisiert werden.‘
Zur Verwirklichung dieses Grundsatzes wurde ein Forderungsprogramm von neun Punkten aufgestellt, unter anderem das allgemeine Wahlrecht, Presse- und Versammlungsfreiheit, Trennung von Kirche und Staat, Reform der Schulgesetze, Reform der Steuergesetze und Einführung der Normalarbeitszeit.
In meiner Bibliothek fand ich das Lied, von Andreas Scheu getextet, das von den Delegierten des Neudörfler Parteitages gesungen wurde. Ich bin mir sicher, mein Großvater hat damals – 1874 – mitgesungen.
‚Der Staat ist in Gefahr, der Staat, der noch nie sicher war.
Was fürchtet denn der Staat? Das Volk, das er betrogen hat.
‘s ist nicht der Staat allein. Es müssen mehr Betrüger sein.
Pfaff, Adel, Kapital, sie stehen alle auf einmal.
Die Arbeit hat kein Brot. Es hungert sich das Volk zu Tod.
Was macht die Polizei? Sie steht den hohen Lumpen bei.
Doch ach, sie ist zu schwach, es rücken die Soldaten nach.
Das wird dem Volk zu toll. Ihr Schurken, euer Maß ist voll.
Gebt Acht, der Tanz geht los. Dann sei auch uns kein Lump zu groß.
Was ist des Volks Begehr? Das Volk will sein sein eigner Herr.‘“
Zur Erläuterung:
In einer Gegenwart, in der unter schönfärberischen Phrasen von „Arbeitszeitflexibilisierung“ usw. usw. wieder die elementaren Errungenschaften der Arbeiterklasse in Frage gestellt werden, ist die Erinnerung an „Neudörfl 1874“ von aktueller Bedeutung: Andreas Scheu (1844-1927) stand als sozialistischer Redakteur der 1870 in Wien erscheinenden Wochenzeitung „Volkswille“ auf offener Klassenkampfposition. Er wandte sich gegen versöhnlerisch sozialliberale Tendenzen in der jungen Arbeiterbewegung. Er nahm sowohl am deutschen Arbeiterparteitag in Eisenach 1869 teil als auch am Ersten Internationalen Sozialistenkongress in Paris am 14. Juli 1889, also genau am Tag 100 Jahre nach der revolutionären Erstürmung der Bastille. Herbert Steiner hat den Neudörfler Parteitag und seine wichtigsten Forderungen in seinem grundlegenden Buch „Die Arbeiterbewegung Österreichs 1867-1889. Beiträge zu ihrer Geschichte von der Gründung des Wiener Arbeiterbildungsvereins bis zum Einigungsparteitag in Hainfeld (Wien 1964, Europaverlag, Verlag des ÖGB, Seite 95-104) beschrieben. Herbert Steiner (1923-2001), der Pionier der Erforschung der Geschichte der österreichischen ArbeiterInnenbewegung und des antifaschistischen österreichischen Widerstandes, war von 1946 bis 1953 erfolgreicher Bundessekretär der Kommunistischen Jugend Österreichs, damals „Freie Österreichische Jugend“ genannt.