In der Zukunft der Arbeitswelt zeichnet sich zusehends ein Bild der verstärkten Prekarisierung ab. Immer mehr Unternehmen und Konzerne versuchen sich die zunehmend angespannte soziale Lage vieler Menschen in der Gesellschaft zunutze zu machen, indem sie lang erkämpfte Arbeitsrechte auf verschiedene Art und Weise aushöhlen. Resultate davon sind oft Unterbezahlung, unbezahlte Krankenstände oder kein Recht auf bezahlten Urlaub. Einer dieser ist der deutsche Konzern „Delivery Hero“ – hierzulande wohl besser bekannt als der Lieferdienst „Mjam“, der einen Großteil seiner MitarbeiterInnen als sogenannte „freie Dienstnehmer“ beschäftigt. Unser Redakteur hat sich angeschaut, was es damit auf sich hat und wie sich diese Beschäftigungsverhältnisse allgemein auf die Arbeitswelt auswirken.
Es ist elf Uhr vormittags und Kiri fährt mit seinem Fahrrad zu einer Pizzeria im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Von dort soll er so schnell wie möglich eine von tausenden Essensbestellungen ausliefern, die Tag für Tag in Wien über Online-Lieferdienste aufgegeben werden. Einer dieser Lieferdienste ist Mjam – Tochterunternehmen des deutschen Mutterkonzerns Delivery Hero – für den der 35-jährige seit Dezember auf seinem Fahrrad mit dem grünen Rucksack wöchentlich rund zwei Mal Essen ausliefert, um sich seinen Lebensunterhalt mitzufinanzieren. Zu Kiris Arbeitsmitteln als Lieferbote gehören Fahrrad, Rucksack und ein Smartphone, über das er die zu erledigenden Aufträge erhält – sein Arbeitsplatz ist die Stadt. Es ist Mitte März und der Frühling scheint die kalten Wintermonate im Großen und Ganzen abgelöst zu haben, worüber Kiri erleichtert ist, denn im Winter gebe es allerdings viele Tage, an denen die niedrigen Außentemperaturen das Arbeiten erschweren: „Wenn’s draußen so kalt ist wie so oft in den letzten Monaten, fahre ich maximal drei Stunden, weil ich‘s länger nicht aushalte.“, sagt er.
Den Rucksack und die Winterjacke muss er sich vom Unternehmen gegen eine Kaution ausleihen. Fahrrad und Smartphone sind in Kiris Privatbesitz, denn vonseiten Mjam’s werden ihm weder-noch zur Verfügung gestellt. Ist eines davon also kaputt, muss er sich selbstständig um die Reparatur und ihre Kosten kümmern, andernfalls kann er nicht arbeiten gehen und somit auch kein Geld verdienen. Seinen Chef kennt Kiri nicht, nur die App auf seinem Smartphone, über die er die Aufträge erhält.
(Un-)Freie Dienstnehmerschaft
Wie 90 Prozent aller Mjam-LieferbotInnen – allein in Wien sind das insgesamt rund 800 Personen – ist auch Kiri Freier Dienstnehmer. Als solcher hat er keinen fixen Stundenlohn, keinen Anspruch auf bezahlten Krankenstand und keine Mitspracherechte im Betrieb. Für jede Lieferung kriegt er 3,24 Euro plus 38 Cent je Kilometer – wobei letzteres pauschal ausgezahlt wird. Das heißt, dass Mjam für jede Fahrt nur maximal zwei Kilometer, also 76 Cent an Kilometergeld, auszahlt – und zwar unabhängig von der tatsächlichen Distanz. Die Anfahrt zum Restaurant spielt dabei keine Rolle. Wie viel man verdient, hängt also insbesondere davon ab, wie viele Lieferungen man in der Stunde schafft. Einen Urlaubsanspruch oder gar Urlaubs- und Weihnachtsgeld gibt es für die Mjam-FahrradbotInnen nicht.
Für Adele Siegl, seit 2017 Mjam-Betriebsrätin in Österreich, ist klar, dass es das System dieser freien Dienstnehmerschaft aufzubrechen gilt – das bei konkurrierenden Lieferdiensten zum Teil längst schon von üblichen Angestelltenverhältnissen abgelöst wurde. „Wir alle sollten dieselben Rechte haben – wir machen schließlich auch alle denselben Job.“, meint sie. FahrradbotInnen verschiedenster Lieferdienste haben sich daher im Riders Collective zusammengeschlossen, um genau dafür einzustehen. Ihre Forderungen: Ein fixer Stundenlohn von 9,50 Euro, volle Entgeltzahlung im Krankenstandfall und echte Mitsprache im Betrieb – insbesondere aber die Aufnahme von freien Dienstnehmern wie Kiri in den bestehenden Kollektivvertrag. Organisiert sind die FahrerInnen in WhatsApp-Gruppen, mit diesem Frühjahr wurden bereits erste Protestaktionen und Kundgebungen abgehalten.
Wertschöpfung statt Wertschätzung
Der von Deutschland aus agierende Mjam-CEO Artur Schreiber hält von den Ambitionen und Interessen der FahrradbotInnen reichlich wenig, wie es scheint. So sprach er in einem Interview im Februar dieses Jahres davon, dass er die Notwendigkeit der Forderungen des Riders Collective nicht erkennen kann, da es sich beim Lieferdienst-Geschäft um einen „Niedriglohnsektor“ handle, der keine qualifizierte Ausbildung erfordere, beziehungsweise „die einzige Voraussetzung für den Job“ sei, radeln zu können. Für Adele Siegl ist diese Sichtweise ihres Chefs nicht nur fragwürdig, sondern reichlich brisant – insbesondere im Kontext der Corona-Krise und der vielbeschworenen ‚systemrelevanten‘ Rolle der Essens-ZustellerInnen. „Übersetzt heißt das, dass ArbeitnehmerInnen im Niedriglohnsektor und in Jobs, die keine große Qualifikation erfordern, eh kein Arbeitsrecht brauchen. Wenn man das so weiterspinnt, landen wir bald in der Sklaverei.“, stellt Adele fest. Außerdem spricht CEO Schreiber davon, dass die Einführung eines Mindestlohns und arbeitsrechtlicher Absicherungen für die FahrradbotInnen aus ökonomischer Sicht den „Tod der Branche“ bedeuten würde – was vor dem Hintergrund der seit der Corona-Krise bestehenden Profitzuwächse des Mjam-Konzerns besonders zynisch erscheint. Denn wo der Delivery Hero-Konzern 2019 noch 1,24 Milliarden Euro an Umsatz erwirtschaftete, sollen sich ebendiese Gewinnzahlen Schätzungen zufolge im Jahr 2020 verdreifacht haben. Die Betriebsrätin lässt die Darstellung des CEOs daher nicht gelten: „Wenn sie sagen: „Das können wir uns nicht leisten!“, dann sagen sie eigentlich: „Das behindert unser Wachstum!“ Darin eine Ungerechtigkeit zu orten, liegt auf der Hand: Während Delivery Hero auf der einen Seite zu den ‚Krisengewinnern‘ zählt, werden den MitarbeiterInnen auf der anderen Seite nicht einmal die grundsätzlichsten Arbeitsrechte zugestanden. Umso entschlossener zeigt sich Adele darin, gegen diese Entwicklung aufzustehen und sich dagegen zu organisieren – und zwar auch weiterhin gemeinsam mit allen FahrradbotInnen.
Freiheit als Farce
Vonseiten der Chefetagen wird den LieferbotInnen ebendiese Organisierung naturgemäß nicht leicht gemacht. So war etwa der endgültige Anlass zur Betriebsratsgründung Ende 2016 überhaupt erst, dass– als der Unmut in der Belegschaft bereits wuchs – bestehende Räume zum Austausch untereinander aufgelöst und den FahrerInnen damit weggenommen wurden: Einerseits wurden dazu bestehende Chatgruppen in mehrere kleine aufgesplittet, um etwaigen Absprachen vorzubeugen und die Kommunikation zu erschweren, und andererseits wurde die sogenannte ‚Garage‘ geschlossen, in der die FahrerInnen bis damals ihren Dienst antraten und beendeten – wodurch der einzige Ort zum direkten persönlichen Gespräch von nun an nicht mehr existierte.
Aber auch auf anderen Ebenen wird versucht, einen Keil in die gemeinsamen Interessen der FahrradbotInnen zu treiben. Anders, als es der Begriff des „freien Dienstnehmers“ vermuten lässt, existiert eine tatsächliche Wahlfreiheit und Flexibilität in der Realität nur am Papier. Die App, über die die LieferbotInnen ihre Zustellaufträge erhalten und via GPS getrackt werden, erstellt nämlich zudem ‚Rankings‘, in denen die Arbeit der FahrradbotInnen gespeichert, ausgewertet und rangiert wird: Wer zum Beispiel seine Schichten genau einhält oder mehr Aufträge als der Durchschnitt erfüllt, wird bei der Diensteinteilung bevorzugt. Die Konsequenz aus solchen ‚Rankings‘ ist einerseits, dass sich die Mjam-FahrerInnen in einem Konkurrenz-Verhältnis zueinander um die besten Schichten wiederfinden. Andererseits führt ein solches System zu einem größeren Druck auf der Straße, um so viele Aufträge wie möglich abzuschließen – wonach sich ja schließlich auch die Bezahlung richtet. Für Adele ist insbesondere letzteres fahrlässig, da man unter Druck auf dem Fahrrad im oft dichten Straßenverkehr sich selbst, sowie die direkte Umgebung einer Gefahr aussetzt.
Dass Mjam mit solchen prekären Arbeitsverhältnissen überhaupt in der Lage ist, genügend Angestellte zu finden, liegt nicht zuletzt an den gesamtgesellschaftlich steigenden Arbeitslosenzahlen. Denn durch den steigenden Überschuss an Arbeitslosen ergibt es sich, dass sich die Mjam-FahrerInnen Sorgen machen müssen, ersetzt zu werden, wenn sie sich wehren – Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt gibt es schließlich genug. Die besonders in der Krise angespannte soziale Situation wird von dem Mjam-Konzern also inmitten der globalen Wirtschaftskrise schamlos missbraucht. Die Kosten dafür tragen dabei sowohl die Mjam-FahrradbotInnen direkt, als auch indirekt die gesamte Gesellschaft, indem die zunehmend prekäre Lage der breiten Mehrheit der Bevölkerung von einzelnen wenigen großen Unternehmen für ihre Profitinteressen ausgenutzt und damit auch zusätzlich verstärkt wird.
Für den 35-jährigen Fahrradboten Kiri sind diese oft ärgerlichen Umstände, mit denen er in seiner Arbeit als Fahrradbote konfrontiert wird, glücklicherweise eh bald kein Thema mehr, wie er sagt. Denn seit März macht er eine Ausbildung zum Rettungssanitäter, mit der er wohl ab Juni als solcher auch den Job wechseln wird. Zwar ist er – so wie die meisten anderen FahrradbotInnen – eigentlich gerne mit dem Fahrrad in der Stadt unterwegs, allerdings zeigt sich auch bei ihm der Druck beim Arbeiten, der durch diese Art des Beschäftigungsverhältnisses ausgeht, von Mal zu Mal wieder: „Ich fahre auch immer so schnell wie möglich – ob ich da dann manchmal gegen Einbahnen oder über rote Ampeln fahr, ist mir dann auch eher wurscht. Ich muss ja auch Geld verdienen.“ Dass er die Ambitionen seiner KollegInnen vom Riders Collective, einen Widerstand zu etablieren, begrüßt, ist für ihn selbstverständlich – auch wenn er selbst bald wohl nicht mehr als Fahrradbote für Mjam arbeiten wird. „Gegen diese Arbeitsbedingungen und Zustände muss sich organisiert werden, anders wird sich auch nichts ändern.“