Folgt man den Kommentaren im bürgerlichen Feuilleton, sieht man im Bezug auf „neue“ Erscheinungen in der Politlandschaft in der Regel dreierlei: himmelhoch jauchzende Begeisterung aufgrund „revolutionärer“ Geschehnisse, hirnrissige Panikmache oder kaum verborgene Ahnungslosigkeit. Die Berichterstattung über das Phänomen der Piratenparteien vereint alle drei.

Von Rousseau bis Linux

Beim Blick in das in Wikiform gehaltene Parteiprogramm der österreichischen Piraten steht das Wort „Freiheit“ an erster Stelle ihrer Grundwerte. Mit dem bedeutenden Vokabel der Freiheit steigen die Piraten in Fußstapfen, die über den Lauf der Zeit von zahlreichen Strömungen ausgelatscht wurden. Die bürgerliche und damit zumindest formell auch persönliche Freiheit lernen die Bevölkerungen der emporstrebenden Industrienationen Europas und Nordamerikas mit den bürgerlichen Revolutionen ab dem 17. Jahrhundert kennen. Der Liberalismus als Gegenstück zu feudalistischen Gebilden nimmt hier die eine, dort die andere Gestalt an. Die Eckpunkte, die sich beim Siegeszug des Kapitalismus aber durchsetzen, sind überall dieselben: kapitalistisches Privateigentum an Produktionsmitteln, Freiheit des Individuums und der Presse, Rechtssicher- und -gleichheit; Gleichzeitig aber selbstverständlich die Fernhaltung des Pöbels von den Schaltzentralen der Macht.

Mit der im Rahmen der Industrialisierung aufbrechenden sozialen Frage wird der Liberalismus von sozialliberalen Maßnahmen teilweise verändert: Verzicht auf die Revolution der Arbeiterklasse und ein paar Reförmchen, wo der Schuh am ärgsten drückt. Im 20. Jahrhundert tritt dann neben den Sozialliberalismus der Ökoliberalismus. Der versteht sich mit dem Neoliberalismus ja ganz gut, wenn wir einen Blick auf den Werdegang der Grünen von der Hainburger Au in den Mainstream des herrschenden Systems werfen. Wenig später differenzierte sich durch die Entwicklungen auf dem Gebiet der Informationstechnologie eine neue Gruppe der Intelligenz heraus: IT-Spezialisten und weitere Netzaffine. Und hiermit wären wir auch schon beim Kern der Piraten angelangt.

Politischer Arm der Überwachungsgegner?

Die Auseinandersetzungen um WikiLeaks, der Ruf nach Vorratsdatenspeicherung und der zunehmende Zugriff auf persönliche Daten zeigen zweierlei: Erstens setzen das Kapital und seine Regierungen weltweit mehr daran, noch nicht völlig der Kapitallogik unterworfene Bereiche der Gesellschaft nutzbar zu machen. Zweitens schreiten die Bestrebungen, überwachungsstaatliche Maßnahmen zu schaffen, immer rigider voran. Hier bewegen sich die Piraten, die sich als politischer Arm der Bewegung gegen diese Entwicklungen zu inszenieren versuchen. Dies bildet den Dreh- und Angelpunkt ihrer öffentlichen Wahrnehmung und Eigendarstellung. Auffällig in diesem Zusammenhang ist, dass sie gegen staatliche Maßnahmen wie Vorratsdatenspeicherung weit vehementer auftreten als gegen die Datensammelwut privater Unternehmen.

Alter Wein in neuen Schläuchen  

Wenn wir aber davon ausgehen, dass im beinahe globalen Kapitalismus die Grenzen nicht zwischen Torrent-Downloadern und Plattenverkäuferinnen, sondern zwischen oben und unten, also zwischen Kapital und Arbeit, verlaufen, kommen wir schnell zu dem, was die Piraten denn im Endeffekt auszumachen scheint: denn keineswegs handelt sich bei ihnen um eine neue politische Bewegung – vielmehr stoßen wir allem aufgesetzten Revoluzzertum zum Trotz auf ein bestens in das herrschende System integrierbares und integriertes Phänomen. Im Kern stehen ideologisch betrachtet liberale Tugenden, die sich mangels einer bedeutenden liberalen Partei in Österreich ansonsten an den verschiedenen Ecken und Enden der Parlamentsparteien, in diversen Initiativen und im Liberalem Forum sammeln. Dies zeigt schon ein Blick ins Piratenprogramm: ganze zwölf mal kommt „Freiheit“ vor, nach „Solidarität“ sucht man vergebens. Der neue Schlauch, in denen der alte Wein Liberalismus fließt, ist das WLAN-Bürgertum. Die Kernakteure sind keineswegs die durch Internetzensur und Überwachungsstaat Gebeutelten von heute, sondern vielmehr die führenden Köpfe der IT-Wirtschaft von morgen, die ruling class 2.0.

Zulauf durch Unfähigkeit

Nicht leugnen lässt sich der Zuspruch zu den Piraten weit über ihr eigentliches Klientel hinaus. Das ist aber weniger den „revolutionären“ Ideen der Freibeuter, sondern der Schwäche der etablierten Parteien geschuldet. Das völlige Versagen des bürgerlichen Parteienspektrum v.a. junge Menschen anzusprechen und die völlige Abkapselung von ihren Lebensrealitäten, führt eben dazu, dass die vermeintlich neue „Bewegung“ mit überschwänglicher Begeisterung aufgenommen wird. Wobei der anfängliche Hype um die Piraten wohl auch schon im Sinken begriffen ist und die alpenländischen Seeräuber von (Wahl-)Erfolgen wie in Berlin nur träumen können.

Was aber bleibt, wenn wir die Piraten entzaubern? Eine Bewegung der Herrschenden von morgen, die über haufenweise liberales Blabla momentan dazu in der Lage ist, Menschen anzusprechen. Ob der Hype bald vorüber ist oder ob sich die IT-Intelligenz tatsächlich eine österreichische FDP schafft, bleibt abzuwarten. Fest stehen dürfte aber, dass es die Revolution erstens nicht zum Download und zweitens nicht mit den Piraten gibt.

Literaturtipps:

W. Paul Cockshott, Allin Cottrell: Alternativen aus dem Rechner

Georg Fülberth: Warum Piraten? (In: Junge Welt, 26.5.2012)

Michael Paetau: Piraten am Kreuzweg der Wissensordnung (In: Das Argument, 295/2012)